Prokrastination – Präkrastination.
Eine unheilige Allianz
Referat von Dr. Franz J. Schaudy
an der International Psychoanalytic University Berlin (IPU)
im Rahmen des Interdisziplinäres Symposions „Prokrastination. Psychoanalyse und gesellschaftlicher Kontext“. 26. November 2016
Forschungsprojekt von 2015–2018 unter der Leitung von Prof. Dr. Christine Kirchhoff
Wissenschaftliche Mitarbeit: Carolin Schnackenberg, Tom Uhlig
Gefördert durch: Stiftung für Psychoanalyse und Psychotherapie, Köhler-Stiftung
Zusammenfassung:
Der erste Teil des Referats ist ein sehr praxisbezogener Teil, dessen Inhalt sich direkt aus meiner beruflichen Erfahrung ableitet. Die Subjektivierung von Arbeit und die von der Gesellschaft weitestgehend akzeptierte Forderung, alle beruflichen Tätigkeiten sofort und ohne Aufschub erledigen zu müssen, führt zu einer Zunahme von Präkrastination im beruflichen Bereich und einer Zunahme von Prokrastination im privaten Bereich.
Die Unterscheidung dieser beiden zwanghaften Verhaltensmuster nach Bereichen führt zu einer neuen differenzierteren Sichtweise von Prokrastination und verweist zugleich auf den kausalen Zusammenhang zwischen „Prokrastination“ und „Präkrastination“.
Beim zweiten Teil handelt es sich um einen theoretischen Beitrag, zu dem mich die Lust an der psychoanalytischen Theorie verführt hat. Es geht dabei um Analogien zwischen „Arbeitsstörungen“ und „Sexualstörungen“. Genauer gesagt, zwischen „Präkrastination“ und der „Ejaculatio praecox“. Eine zusätzliche triebökonomische Erklärung für die Übererfüllung von Aufgaben, für den „voraus-eilenden Gehorsam“, für dieses „zu-schnelle-Kommen“, kann aus der Abhandlung „Über Ejaculatio praecox“ von Karl Abraham aus dem Jahre 1917 gefunden werden.
Die Lust am Vorauserledigen kann bei bestimmten Persönlichkeitsstrukturen sehr rasch in Frustration und Versagensgefühl umschlagen. Die Unzufriedenheit mit sich und der geleisteten Arbeit – trotz Übererfüllung – ist dabei unübersehbar.
1. TEIL
PROKRASTINATION – PRÄKRASTINATION
1.1. Der kausale Zusammenhang zwischen „Prokrastination“ und „Präkrastination“
1.2. Eine US-amerikanische Studie zu „Pre-Crastination“
1.3. Zwei Fallbeispiele aus meiner Praxis
1.4. Kurzer Abriss zur „bedtime procrastination“
1.1 DER KAUSALE ZUSAMMENHANG ZWISCHEN „PRO-KRASTINATION“ UND „PRÄ-KRASTINATION“
Es war und ist wichtig, dass wir uns eingehend mit dem Phänomen der „Prokrastination“ auseinandersetzen. Und diese Tagung ist ja ein Beweis dafür. Doch wir dürfen dabei nicht übersehen, dass „Prokrastination“ auch einen gewichtigen Gegenspieler hat – nämlich die „Präkrastination“.
Die hohe Medienresonanz und die Popularität der Beschäftigung mit „Prokrastination“ drückt sich
in einer Unmenge von ratgebender Literatur aus. Die vielen Beispiele über das „Aufschieben“ und „Verschieben“ im Alltag führen bei vielen Menschen zu einer hohen Wiedererkennungsrate.
Die „„Präkrastination““ hat diese Medienresonanz nicht. Noch nicht. Wir sind dafür noch nicht ausreichend sensibilisiert. Auch gibt es vergleichsweise wenig Studien und Forschungsarbeiten dazu. Eine der bekanntesten unter diesen wenigen Studien ist die behavioristisch angelegte Forschungs-arbeit von David A. Rosenbaum aus dem Jahre 2014 – auf die ich später noch zurückkommen werde.
Vergangene - und aus heutiger Sicht „verlangsamte“ - Gesellschaftsformen haben die Eigenschaft,
ein Ding nach dem anderen zu erledigen, geordnet nach Wichtigkeit, Dringlichkeit etc.
„Beschleunigte“ Gesellschaften, wie wir sie derzeit erleben, haben die Tendenz zu Multitasking und zum sofortigen Erledigen der Aufgaben, wie sie gerade an einen herangetragen werden, mit dem Ziel, sie möglichst schnell und nach Möglichkeit auch noch vor der Zeit zu erledigen.
Die Verbindung analytischen Denkens mit wirtschaftspsychologischen Fragestellungen ist aus meiner Arbeit nicht wegzudenken. Und gerade deshalb konnte ich diese deutliche Zunahme von beruflicher „Präkrastination“ bei gleichzeitiger Abnahme von beruflicher „Prokrastination“ beobachten.
Diese internalisierte Haltung, „alles so schnell wie möglich“ erledigen zu müssen, scheint mir in der Arbeits- und Berufswelt von heute ein immer größeres Problem zu werden - aus meiner Sicht sogar ein größeres Problem als das der „Prokrastination“.
Frau Christine Kirchhoff, Professorin für Psychologie mit Schwerpunkt psychoanalytische Kulturwissenschaft an der IPU, schreibt in ihrem „Call for Abstracts“ zu dieser Tagung:
„Die Erosion sozialmarktwirtschaftlicher Strukturen und die Herausbildung neuer Arbeitsweisen zielen auf die Subjektivierung und Flexibilisierung von Arbeit“. Genau diese Subjektivierung und Flexibilisierung von Arbeit und der damit einhergehende ökonomische Druck und Zwang führen zu dieser Forderung, alle beruflichen Aufgabenstellungen und Anforderungen unbedingt und ohne Aufschub erledigen zu müssen. Diese Forderung setzt sich in den Köpfen der Menschen fest - und wird immer häufiger widerspruchslos hingenommen.
„Präkrastination“ führt im selben Ausmaß zu einer nachhaltigen Störung des Lebensgleichgewichts wie die „Prokrastination“ - Stichwort „work-life-balance“.
Bei der von mir beobachteten „Präkrastination“ verschiebt sich der individuelle „Zeitausgleich“ in eine ganz bestimmte Richtung: die privaten Angelegenheiten, Tätigkeiten und Wünsche werden verschoben, bleiben liegen, werden „prokrastiniert“. Beziehungsarmut, späte Familiengründung mit Kindern, hohe Scheidungsraten, Flucht in die sozialen Medien und und und … sind die Folge.
Es besteht ein kausaler Zusammenhang zwischen „Präkrastination“ und „Prokrastination“.
Im Arbeitsbereich wird die „Präkrastination“ immer mehr gefördert, ja gefordert, und die „Prokrastination“ verschiebt sich mehr und mehr in den privaten Bereich.
Es handelt sich bei dieser Verschiebung um einen schleichenden gesellschaftlichen Veränderungs-prozess. Man könnte auch sagen, die Ökonomisierung durchdringt immer weitere Lebensbereiche. Ähnlich dem Phänomen „Korruption“, das sich auch gasförmig verbreitet.
Die neuen Techniken und die sozialen Netzwerke fördern natürlich die „Präkrastination“.
Menschen beantworten E-Mails sofort und ohne lange zu überlegen, sie twittern sofort, vergeben schnelle „Likes“ und unreflektierte Kommentare. Sie bezahlen sogar ihre Rechnungen bevor sie sie noch offiziell erhalten haben, räumen ihre Waren sofort nach Betreten des Geschäfts in ihre Einkaufswägen, ohne sich vorher einen Überblick zu verschaffen. Sie wollen alles so schnell wie möglich erledigen. Die Ergebnisse der „Pre-Crastination“ Experimente von David A. Rosenbaum(1) weisen in genau diese Richtung. „I wanted to get the task done as soon as possible“(2) war eine der häufigsten Antworten bei Rosenbergs Experimenten.
In meinem Arbeitsgebiet sind die Normen hierfür – die gesetzten Benchmarks – sehr unterschiedlich. Was in dem einen Unternehmen als schnelle Erledigung gilt, wird im anderen als Schneckentempo bezeichnet. Kulturelle Unterschiede, Unternehmenskultur und Branche - natürlich auch Position und Funktion des Mitarbeiters/der Mitarbeiterin – beeinflussen diese Normierung.
Bei der Beurteilung des Ausprägungsgrades von „Präkrastination“ ist deshalb auf die jeweilige Benchmark ein besonderes Augenmerk zu legen.
Sowohl bei der „Prokrastination“ als auch bei der „Präkrastination“ sind – wie wir alle wissen – die Übergänge von normal neurotischen zu psychopathologischen Verhaltensmustern fließend.
Die Forderung, „Prokrastination“ in den Katalog psychopathologischer Arbeitsstörungen aufzunehmen, ist nachvollziehbar und begrüßenswert.
Wenn wir allerdings „Prokrastination“ in ihrer stärksten Ausprägung als psychopathologische Störung betrachten, dann sollte und müsste dies in gleicher Weise auch für die „Präkrastination“ gelten.
Inwieweit die Unterscheidung dieser beiden zwanghaften Verhaltensmuster nach Lebensbereichen – hier der berufliche Bereich mit zunehmender „Präkrastination“, dort der private Bereich mit der zunehmenden „Prokrastination“ – verallgemeinerbar ist, könnte und sollte weiter untersucht werden.
1.2. DIE ROSENBAUM STUDIE ZU „PRE-CRASTINATION“
David A. Rosenbaum, Professor für Psychologie an der Pennsylvania State University, war einer
der ersten, der sich dieses Themas annahm - allerdings behavioristisch angelegt und biologistisch eingefärbt.
250 Studenten standen David A. Rosenbaum und seinem Team als Probanden für seine ersten neun unterschiedlichen Testreihen (3) zur Verfügung.
Um eine Testanordnung zu erstellen, die der Komplexität des „wirklichen“ Lebens entspricht, bedarf es eines großen Aufwands. Viele Experimente leiden unter einer Simplifizierung und Reduktion von Komplexität – so leider auch die Rosenbaum Studie:
Entlang eines Ganges waren links und rechts Eimer bzw. Kübel aufgestellt. Die Versuchspersonen mussten je einen Kübel von der linken und einen von der rechen Seite nehmen, um sie dann gemeinsam bis zum Ende des Ganges – zum Ziel – zu tragen.
Die Probanden ergriffen immer die ersten Eimer, obwohl sie diese in der Folge länger und schwer
zu tragen hatten. Offenbar war der mentale Druck der unerledigten Aufgabe so stark, dass sie auch einen physischen Mehraufwand in Kauf nahmen, nur um die Aufgabe so schnell wie möglich aus dem Gedächtnis streichen zu können.
Rosenbaum spricht von einer Art „intrinsischer Selbstbelohnung“ – „rewarding in and of itself“.
Er geht auch davon aus, dass „Pre-Crastination“ eine phylogenetische Disposition besitze; eine Hypothese, die er mit einem weiteren Experiment, dem Taubenexperiment, zu stützen suchte.
Seine Versuchstauben mussten dreimal hintereinander auf einem Touchscreen auf verschiedene Quadrate picken, um Futter zu bekommen. Ihr Futter bekamen sie in jedem Fall, welche Quadrate sie auch immer wählten. Und siehe da, auch diese „Probanden“ wählten immer die schnellst-mögliche Erledigung, d.h., auch die Tauben zeigten ein präkrastinierendes Verhalten.
David Rosenbaum fand damit seine Hypothese bestätigt, dass es sich beim Phänomen der
„Pre-Crastination“ um ein angeborenes Selbstbelohnungssystem handle und nicht um ein sozial bedingtes Phänomen.
Ich hingegen konnte bei meinen Klienten/Klientinnen kein solches Selbstbelohnungssystem beobachten. Meine Klienten erlebten nach einem „schnellen Erledigen“ kaum Erleichterung und zeigten diese auch nicht. Vielmehr mussten sie sofort und zwanghaft an die nächste anstehende Erledigung denken. Die meisten von ihnen waren sogar sehr unzufrieden mit sich und ihrer geleisteten Arbeit - trotz Übererfüllung. Das schlechte Gewissen, private Dinge wissentlich zu verschieben , überlagerte alle anderen Gefühle.
Für „Pre-Crastination“ wird vieles in Kauf genommen: die Vernachlässigung elementarer eigener Bedürfnisse – psychischer und physischer Raubbau. Überarbeitung, Überbelastung, Schlafstörungen, etc. sind die Folge.
1.3. ZWEI FALLBEISPIELE AUS MEINER PRAXIS
Ein Fall von „Präkrastination“, der sichtlich „exogen“, also sozial determiniert ist, und ein zweiter Fall, der möglicherweise schon als „psychopathologisch“ einzuordnen ist.
Mein erstes Beispiel:
Ein kleines Software-Unternehmen, ein „Start Up“ im 4.Jahr, das nicht die Ergebnisse bringt, wie es sich die Investoren vorstellen. Es heißt, dem Unternehmen wird noch ein Jahr gegeben, um den
Turn-around zu schaffen.
In jedem Software Unternehmen steht ein „Head of Engineering“ unter einem besonderen Druck.
Er hat eine schwierige Sandwichfunktion inne: der externe Druck durch die oftmals überzogenen Kundenanforderungen und der interne Druck, im vorgegeben Zeit- und Kostenrahmen zu bleiben.
Ich wurde gerufen, weil die Zusammenarbeit und der Workflow innerhalb der Organisation nicht mehr funktionierten. Konflikte, Schuldzuweisungen, Demotivation, Kündigungen, etc. …
Der „Head-of“ in meinem Beispiel – nennen wir ihn Karl - ist Vorgesetzter von 15 Mitarbeitern/innen. Karl lebt in einer fixen und bislang stabilen Beziehung, seine Lebensgefährtin befindet sich noch in Ausbildung und ist ohne Einkommen, es gibt eine gemeinsame Tochter im Volksschulalter.
Im Gespräch unter vier Augen vertraut er mir an, dass er große Angst um seinen Job habe.
Die Kritik an ihm werde von allen Seiten immer größer. Das verunsichere ihn und mache ihn –
wie er es ausdrückt - „unrund“.
Bisher galt unser „Head of“ als fachlich und sozial sehr kompetent – als ein ruhender Pol in stürmischen Zeiten. Seit gut einem halben Jahr bemüht er sich ganz besonders alle Aufgaben möglichst schnell abzuarbeiten; er möchte nichts liegen lassen und verschiebt zwangsläufig
die privaten Termine immer weiter nach hinten; gemeinsam vereinbarte und geplante Abende, Einladungen zu Hause, Einladungen außer Haus – alles wird verschoben. Er muss auch Conference Calls mit erheblicher Zeitverschiebung führen - er kann nicht anders als Tag und Nacht an seine Arbeit zu denken. Seine Partnerin sieht er sehr wenig und sein Kind nur noch schlafend.
Er wirkt sehr oft nervös, gereizt und unkonzentriert.
Karl leidet sehr darunter, dass er Familiäres immer wieder verschieben muss, er erlebt keinen Lustgewinn über seine schnell erledigte Arbeit. Seiner Wahrnehmung nach wird die Arbeit immer schwieriger und immer mehr - und zugleich wächst der ökonomische Druck von außen.
Im Beruf häufen sich seine Fehler. Im Privaten beginnt es zu kriseln. Karls „work-life-balance“ beginnt
aus den Fugen zu geraten, ein Überlastungssyndrom in naher Zukunft ist nicht auszuschließen.
Der Fall „Karl“ ist ein Beispiel dafür, wie sich „Präkrastination“ im Beruf verstärkend auf
die „Prokrastination“ im privaten Bereich auswirken kann.
Das zweite Beispiel:
Ein ausgelagertes, ursprünglich kommunales Unternehmen, mit einem hohen Anspruch auf Arbeits- und Lebensqualität. Einer von vier Abteilungsleitern - genannt Hans - ist „Direktor“ von zwei Abteilungen. Hans ist Mitte 40, mit dem Ruf absoluter Verlässlichkeit und hohem Pflichtbewusstsein.
Seine beiden Abteilungen sind klein, mit nur jeweils fünf Vollzeitbeschäftigten. Oft verbringt Hans
14 Stunden am Tag in der Arbeit, auch an Samstagen kommt er immer wieder einmal ins Büro. Seine Frau ist berufstätig, mit einem gesicherten Einkommen. Die beiden Kinder sind im pubertären Alter - mit normalen pubertären Anwandlungen.
In den letzten zwei Jahren wurde die Arbeit immer mehr, als Ausgleich dazu wurde aber auch sein Mitarbeiterstand adäquat und kontinuierlich erhöht. Ein großer Unterschied zu unserem ersten Beispiel. Sein direkter Vorgesetzter möchte ihm noch zusätzlich helfen und seine Arbeitsbelastung reduzieren. Deshalb überträgt er Hans nur mehr die Verantwortung für eine Abteilung. Er darf Führungskräftetrainings besuchen, zu Themen wie Delegieren, Selbstmanagement, Zeitmanagement – doch an seinem Arbeitsverhalten ändert sich wenig.
Hans erzählt mir, dass er immer schon zu seinen privaten Terminen zu spät gekommen wäre,
von der Theateraufführung seiner Tochter bis zu den Einladungen bei Freunden.
Er habe immer schon darunter gelitten, es nicht zu schaffen, privat die gleiche Verlässlichkeit zu zeigen, wie im Beruf. Und obwohl er jetzt nur mehr eine Abteilung zu führen habe, habe sich dieses Verhalten in keiner Weise verändert – außer, dass das eigene schlechte Gewissen und die Vorwürfe von Familie und Freunden zugenommen hätten.
Er fände einfach keine zusätzliche freie Minute. Die Teilzeitkräfte arbeiteten so schlampig wie nie – regelmäßig müsse er nacharbeiten. Die Ganztagskräfte würden ihn im Stich lassen, alle Arbeit laste auf ihm.
So hatte er z.B. eine Präsentation für ein internes Meeting vorzubereiten. Er delegiert diese Arbeit, wie er es gelernt hat, ist aber mit dem Ergebnis nicht zufrieden, fährt am Abend brav nach Hause, arbeitet jedoch weiter an der Präsentation - bis 3 Uhr in der Früh.
Wie sich herausstellte, war dies weder ein besonders wichtiger Termin, noch eine Arbeit von besonderer Dringlichkeit.
Außerdem erlebt Hans keine Befriedigung daran, etwas erledigt zu haben; er arbeitet immer alles sehr schnell ab – hyperaktiv, aber durchaus nach System. Auch wenn eine Deadline erst für in drei Wochen angesetzt ist, er muss die Arbeit vorher – so schnell wie möglich – am besten vorzeitig erledigen. Doch jedem zwanghaften Erledigen steht ein ebenso zwanghaftes Nicht-Erledigen gegenüber.
Auch in diesem Beispiel wird deutlich, wie die berufliche Pflichterfüllung mehr und mehr den ganzen Tag - und die ganze Nacht - durchdringt. Diese nächtliche berufliche „Präkrastination“ führt zu einer ganz spezifischen Form von „Prokrastination“ - nämlich der „bedtime procrastination“.
1.4. „BEDTIME PROCRASTINATION“ (4)
Menschen schaffen es nicht, zur geplanten Zeit ins Bett zu gehen. Normalerweise ist „procrastination“ dadurch definiert, dass man einer unliebsamen Aufgabe entfliehen will,
sie hinausschieben will. Der Schlaf zählt in der Regel nicht zu diesen unliebsamen Aufgaben.
In einer Online Studie der Universität Utrecht aus dem Jahr 2014 zu „bedtime procrastination“ wurden 177 Personen befragt und deren Ergebnisse ausgewertet. (5)
Frau Prof. Kroese, Professorin am „Department of Clinical and Health Psychology“, erläuterte
in einem Interview: „Bedtime Procrastination ist wahrscheinlich ein ziemlich modernes Phänomen. Wir denken, dass es weniger darum geht, nicht schlafen zu wollen, sondern eher darum, andere Aktivitäten nicht beenden zu wollen.“ (6)
Eine der Fragen des Online Fragebogens lautete: „Often I am still doing other things when it is time to go to bed“. (7) Doch welche „other things“ – anderen Aktivitäten - sind das? Netflix, Apple-TV, Facebook, Computerspiele? Sie sind tatsächlich die eine Form von Aktivitäten, die nicht beendet werden wollen oder beendet werden können und die Studie kommt zum nicht gerade überraschenden Ergebnis, dass Menschen mit geringerer Selbstdisziplin dafür anfälliger sind.
Doch meine Klienten/Klientinnen sind Menschen mit enormer Selbstdisziplin – allerdings und vorallem nur auf ihre beruflichen Verpflichtungen bezogen. Es sind Menschen, die mitten im Berufsleben stehen, sich in leitender Position und Funktion - auf Managementebene – befinden. Nicht wenige von ihnen können in der Nacht kein Ende ihrer beruflichen Aktivitäten finden.
Dieses „kein Ende finden“, dieses unbedingte „gut vorbereitet sein“ müssen, dieses unverzügliche Beantworten aller E-Mails, dieses möglichst schnelle Abarbeiten der To-do-Liste – dieses
„Präkrastinieren“ ist immer häufiger die Ursache für diese Art der „procrastination“, der „bedtime procrastination“.
Zusammengefasst und in neuer Begrifflichkeit formuliert:
„Work-precrastination“ ist der Gegenspieler, der Verursacher und Verstärker einer
“Life-procrastination“.
2.TEIL
Zusammenhänge zwischen der Arbeitsstörung „Präkrastination“ und der sexuellen Funktionsstörung „Ejaculatio praecox“
2.1. Persönliche Bemerkungen zu Karl Abrahams „Über Ejaculatio praecox“ (8)
2.2. Drei ausgewählte Themenbereiche: Ängste, Ambivalenzen, charakterliche Dispositionen
2.3. Sigmund Freud: „Hemmung, Symptom, Angst“ (9)
2.1. PERSÖNLICHE BEMERKUNGEN ZU KARL ABRAHAMS „ÜBER EJACULATIO PRAECOX“
Nachdem ich den „Call for Abstracts“ von Christine Kirchhoff gelesen hatte, war mir das Thema des kausalen Zusammenspiels von „Prokrastination“ und „Präkrastination“ sehr schnell klar. Doch über die inhaltliche Verbindung von „Arbeitsstörungen“ und „Sexualstörungen“ hatte ich zunächst nur eine vage Vorstellung.
Nicht jeder psychiatrische, psychoanalytische oder psychologisch angehauchte Begriff, der mit
„pre“ beginnt, eignet sich als Gegenstück zu „Präkrastination“. Zu allererst schied der historisch überholte und belastete Begriff der „Dementia praecox“ aus.
Doch die „Ejaculatio praecox“, dieses „zu-schnelle-Kommen“, und die „Präkrastination“, dieses
„zu schnelle und vorschnelle Erledigen“ von Arbeit schienen mir gut geeignet zu sein. Und wie
von selbst stellte sich eine assoziative Verknüpfung zu Karl Abrahams Pionierarbeit zu diesem
Thema ein.
So habe ich mir Abrahams Abhandlung „Über Ejaculatio praecox“, die 1917 erstmalig in der „Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse“ veröffentlicht wurde, über die Sigmund-Freud- Bibliothek in Wien besorgt und - nach Jahrzehnten - wieder gelesen.
Von 1917 bis heute sind rund 100 Jahre vergangen, mit weitreichenden ökonomischen und gesellschaftlichen Veränderungen. Die Sprache und das Denken haben sich verändert, die Rollenbilder und Normierungen von „männlich“ und „weiblich“ sind nicht mehr dieselben.
Die normativen Geschlechtsdefinitionen vom Beginn des vorigen Jahrhunderts haben ihre Gültigkeit verloren.
So wie die Ökonomisierung alle unsere Lebensbereiche durchdrungen und verändert hat, so haben auch Sexualisierung und Pornografisierung tiefe Spuren hinterlassen.
Ich möchte hier keine Grundsatzdiskussion über Abrahams Aussagen beginnen - insbesondere nicht über die zur weiblichen psychosexuellen Entwicklung. Dazu gibt es ausreichend kritische Stimmen und Schriften, die den „männlichen“ Blick darin analysieren – und mehr oder weniger verständnisvoll kritisieren.
Grundsätzlich würde ich meinen, dass Abrahams Erkenntnisse und Beschreibungen der sexuellen Funktionsstörung „Ejaculatio praecox“ im Großen und Ganzen bestehen bleiben können.
Es handelt sich dabei ja auch um einen „männlichen Blick“ auf eine „männliche Störung“!
Abraham sieht in der psychosexuellen Entwicklung dieser Störung ursächliche Zusammenhänge
mit Kastrationsängsten und fehlgeleiteten Objektbeziehungen.
Hier beginnt mein Brückenschlag.
2.2. DREI AUSGEWÄHLTE THEMENBEREICHE
2.2.1 Charakterliche Dispositionen
2.2.2 Ambivalenzen
2.2.3 Ängste
Ich habe dazu 3 Themenbereiche identifiziert und definiert, in denen ich augenscheinliche Analogien und Zusammenhänge zwischen den beiden Störungsarten feststellen konnte:
Ich bin mir dessen bewusst, dass es sich dabei nur um eine verkürzte Sicht aller Deutungen und Bedeutungen Karl Abrahams zu diesem Thema handeln kann.
2.2.1 Charakterliche Dispositionen
Schon bei meinen ersten Überlegungen über mögliche Zusammenhänge zwischen „Präkrastination“ und der „Ejaculatio praecox“ vermutete ich Ähnlichkeiten zwischen den Charakteren der unter diesen Störungen leidenden Menschen.
Abrahams Beschreibung einer typischen Charakterform bei der „Ejaculatio praecox“ kann man eins zu eins auf das Verhaltensmuster eines unter „Präkrastination“ leidenden Menschen übertragen.
Er schreibt: „Der hastende Neurotiker ist auf der Flucht vor den in ihm liegenden unbewußten Widerständen; er muß seine Vorsätze in fieberhafter Eile zur Ausführung bringen, ehe seine Widerstände zum Durchbruch kommen und ihn zu völliger Resignation zwingen“. (10)
Diese Beschreibung – und vorallem der Verlauf dieser Störung - findet sich bei der „Präkrastination“ wieder. Wenn der „Präkrastination“ nicht ausreichend entgegen gewirkt wird, führt sie unweigerlich zu einer Überforderung, an der der Mensch letztendlich zerbricht – und ihn ebenfalls „in völlige Resignation zwingt“.
In meiner Feldstudie haben sich nur wenige weiblichen Fälle befunden. Doch diese wenigen Fälle von weiblicher Präkrastination zeigten dasselbe Charakterbild wie das der Männer: in dauernder Hast befindlich, unruhig, nervös. Auch hier gibt es eine starke Analogie zu Abrahams Beobachtungen und Schlussfolgerungen.
2.2.2 Ambivalenzen
Die Ambivalenz „Lust und zugleich Unlust“ . Ich zitiere Karl Abraham: „Die Ejaculatio praecox hat jedoch für sie (Anmerkung: Libido-Entwicklung) gleichzeitig Lust- und Unlustbedeutung“. (11)
Abraham sieht in dieser Störung sowohl eine Quelle starker Unlust, die sich durch Insuffizienzgefühle, nervöse Angst und Selbstvorwürfe ausdrückt, als auch einen starken Lustcharakter, der in der Regel übersehen wird. Er meint damit in erster Linie die Urethrallust.
Die Gleichzeitigkeit von Lust- und Unlust konnte ich bei meinen Fällen nur selten beobachten.
Die Lust blieb meist verborgen, da sie – offensichtlich „übersehen wurde“.
Abraham erfasst in seinen Analysen eine weitere für diese Störung typische Ambivalenz:
„Es ist nicht nur ein Liebesbeweis mit der Tendenz des Bewundert- und Berührtwerdenwollens…“ (12) auf der einen Seite, sondern zugleich ein Zeichen der Ablehnung, Feindschaft und Verachtung auf der anderen Seite. „Wir kommen so zu dem eigentümlichen Ergebnis, daß die Ejaculatio praecox auch ein Ausdruck der Feindschaft und Verachtung ist …“ (13)
Auch bei der „Präkrastination“ findet sich Liebesbeweis und Ablehnung in einem.
Es ist der Liebesbeweis eines Abhängigen, der Angst und Minderwertigkeit erlebt, da das Liebesobjekt stets über die Möglichkeit verfügt, ihm die Liebe - mittels Kündigung - zu entziehen.
Der Arbeitgeber, das Unternehmen, der direkte Vorgesetzte übernimmt die Rolle des Liebesobjekts, das vom Arbeitnehmer zugleich geliebt und gehasst wird.
„Ich mache alles was du willst, so schnell du es willst, wie du es willst“ und zugleich „kann ich es besser als du, mache ich es schneller als du“. Und aus diesem „schneller“ wird ein „zu schnell“ – gültig für beide Störungsarten.
2.2.3 Ängste
Karl Abraham schreibt:
„…; die Kastrationsangst, deren Bedeutung im Seelenleben des kleinen Knaben und im Unbewußten
des erwachsenen Mannes Freud erkannt hat, entfaltet ihre Wirkung auch in der Psychogenese der Ejaculatio praecox.“ (14)
Und ich meine wortgleich: Die Kastrationsangst entfaltet ihre Wirkung auch in der Psychogenese der Präkrastination.
Aus Angst vor dem Jobverlust, sprich: aus Angst vor der Kastration, setzt der „Präkrastinierer“
alles daran, die Arbeit so schnell wie möglich zu erledigen und am besten noch vor der Zeit.
Eben „zu schnell“. Die „Angst vor dem Verlust der Arbeit“ ist tief verwurzelt in der „Kastrationsangst“.
2.3. SIGMUND FREUD: „HEMMUNG, SYMPTOM, ANGST“
Zum Abschluss möchte ich noch eine Abhandlung Sigmund Freuds zu diesem Thema ins Spiel bringen.
Aus seiner Schrift „Hemmung, Symptom und Angst“ aus den späten 20iger Jahren.
Die meisten Störungen der Sexualfunktion weisen für Freud den „Charakter einfacher Hemmungen“ auf. Fünf solcher Hemmungsarten zählt er im 1.Kapitel „Hemmung, gestörte Sexualfunktionen“ punktationsmäßig auf. Ich werde versuchen, eine Hemmung nach der anderen auf eine der gängigen Arbeitsstörungen zu übertragen.
Freud schreibt:
“Die Hauptstationen der Hemmung sind beim Manne:
Die Abwendung der Libido zur Einleitung des Vorgangs (psychische Unlust)“ (15)
einfach übersetzt entspricht diese „psychische Unlust“ einem: „ich mag nicht arbeiten“;
“das Ausbleiben der physischen Vorbereitung (Erektionslosigkeit)“ (16),
übersetzt: „ich kann nicht“;
“die Abkürzung des Aktes (Ejaculatio praecox)“, die eben sowohl als positives Symptom beschrieben werden kann“(17),
gut wiederzuerkennen als: „Präkrastination“;
“die Aufhaltung desselben vor dem natürlichen Ausgang (Ejaculationsmangel)“ (18),
übersetzt: „Ineffektivität“;
“das Nichtzustandekommen des psychischen Effekts (der Lustempfindung des Orgasmus)“.(19)
übersetzt: „kein Lustgewinn an der geleisteten Arbeit“.
Anmerkungen:
(1)
Rosenbaum David A., Gong Lanyun, Potts Cory Adam :
Pre-Crastination. Hastening Subgoal Completion at the Expense of Extra Physical Effort
Published online before print May 8, 2014, doi: 10.1177/0956797614532657;
Psychological Science, vol.25,7: pp 1487-1496. First Published May 8, 2014
(2)
Rosenbaum David A., Wasserman Edward A.: Pre-Crastination: The Opposite of Procrastination. Scientific American TM, a division of Nature America, Inc., Jun 30, 2015, Copyright 2015, S.2
(3)
Psychological Science, ibid., S. 1495
“Rosenbaum David A. and Gong Lanyun designed the first seven experiments. L. Gong took primary responsibility for conducting and analyzing the data from the first seven experiments. Rosenbaum David A. and Potts Cory Adam designed the eight and ninth experiments. C.A. Potts took primary responsibility for conducting and analyzing the data from the eighth and ninth experiments. D.A. Rosenbaum drafted the manuscript. All authors approved the final version of the manuscript for submission.“
(4)
Kroese Floor, De Ridder Denise, Evers Catharine, Adriaanse Marieke: Bedtime procrastination. Department of Clinical and Health Psychology, Utrecht University, Netherlands. “frontiers in Psychology“, Volume 5, Article 611, 19 June 2014. doi: 10.3389/fpsyg.2014.00611
(5)
“frontiers in Psychology“, ibid., Methods / Participants
Davon kurze Zusammenfassung von Schaudy Franz J.:
In einer Online Studie wurden dazu 203 Personen befragt – 7 Teilnehmer mit Schlafproblemen
und 19 Teilnehmer/innen mit Nachtdiensten/Nachtschichten wurden ausgeschieden. Das Sample wurde von der Amazon Mechanical Turk (www.MTurk.com) Plattform gewonnen, einer Plattform, die eine höhere Diversität aufweist, als übliche Internetforen.
(6)
FAZ.Wissen online, www.faz.net › Wissen, “Blockierte Bettruhe – neues Volksleiden? Schlaf, Menschlein, schlaf“, 16.6.2014, von Julia Bast
(7)
“frontiers in Psychology“, ibid., Appendix:
“Bedtime Procrastination Scale
For each of the following statements, please decide whether it applies to you
using a scale from 1 (almost) never to 5 (almost) always.
1. I go to bed later than I had intended.
2. I go to bed early if I have to get up early in the morning (R).
3. If it is time to turn off the lights at night I do it immediately (R).
4. Often I am still doing other things when it is time to go to bed.
5. I easily get distracted by things when I actually would like to go to bed.
6. I do not go to bed on time.
7. I have a regular bedtime which I keep to (R).
8. I want to go to bed on time but I just don't.
9. I can easily stop with my activities when it is time to go to bed (R).“
(8)
Abraham Karl: Über Ejaculatio praecox . In: Hrsg. Johannes Cremerius, Psychoanalytische Studien, Band 1. Gießen: Psychosozial-Verlag, 1998, S.43 – 60. Nachdruck der “Psychoanalytischen Studien“ von 1971 mit freundlicher Genehmigung des Verlages S.Fischer, Frankfurt am Main
(9)
Freud Sigmund: Hemmung, Symptom und Angst. In: Hrsg. Anna Freud, E. Bibring, W. Hoffer, E. Kris,
O. Isakower, Gesammelte Werke, Band XIV, Werke aus den Jahren 1925-1931.
Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, 1999, 1. Kapitel, S.111 - 205.
Copyright by Imago Publishing Co., Ltd., London, 1948
(10) Abraham Karl, ibid., S. 48/49
(11) Abraham Karl, ibid., S.46
(12) Abraham Karl, ibid., S.57
(13) Abraham Karl, ibid., S.57
(14) Abraham Karl, ibid., S.51
(15) Freud Sigmund, ibid, S. 114
(16) Freud Sigmund, ibid, S. 114
(17) Freud Sigmund, ibid, S. 114
(18) Freud Sigmund, ibid, S. 114
(19) Freud Sigmund, ibid, S. 114 |
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